Retro&Vintage
Wo sich die Spuren unserer ästhetischen Neigungen auf Omas Teppich abzeichnen
Samtene Pumps, patinierte Lederstiefel, glänzende Formika-Möbel, bunte Tapeten oder ein massiver Eichenholztisch. Jede Epoche hinterließ ihre ganz eigenen visuellen Spuren – welche ist Ihre Favoritin?
Denn, seien wir ehrlich, fast jeder findet heutzutage im Ressort der Vergangenheit einen ikonischen Hut oder Schuh, einen charakterstarken Bilderrahmen oder einen geschichtsträchtigen Schreibtisch. Ein Kleidungsstück oder einen Gegenstand, der dieses ganz eigene, wohlige Gefühl von Geborgenheit verbreitet, den ein glänzend neuer Gegenstand entbehrt.
Doch was hat es nur an sich, das alte Zeug, dass wir es so lieben? Und vor allem, ab wann hat es das an sich? Und ist dieses Wann für jeden vielleicht ein anderes?

Ich erinnere mich nur zu gut an den Moment, in dem mir persönlich klar wurde, dass was für den einen offensichtlich überholt, für den anderen Gold wert ist:
Es war einer dieser Momente, in denen sich meine Mutter, ganz klischeegemäß, über ihre Schwieger- und meine Großmutter ausließ.
Dieses Mal ging es um ihre Innendekoration, genauer gesagt um einen ganz bestimmten Teppich. Es handelte sich um einen braunen, mit orangefarbenen Rauten verzierten, länglichen Flurteppich. Eben dieser Teppich ist und bleibt, in meinen Augen, für immer und in alle Ewigkeit das Sinnbild der irgendwie sepiafarbenen, übertrieben ordentlichen und penetrant nach Zigarettenrauch und Rotkohl riechenden Wohnung meiner Oma. Damit mochte ich diesen Teppich zum einen aus sentimentalen Gründen, aber auch weil ich ihn einfach echt retro-cool fand.
Aus ihrer Sicht, der meiner Mutter, gab es hingegen nichts Scheußlicheres als dieses Stück linge de la maison. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten alle Teppiche, die von den stylistischen Bemühungen der 60er Jahre niedergebracht worden waren, ein schnelles Ableben in einer Müllverbrennungsanlage verdient gehabt.
Da meine Arbeit als Künstlerin ebenso wie mein privater Geschmack in Dekorations- und Modefragen stark von nostalgischen Themen geprägt sind, war mein Interesse geweckt. Zumal ich mich eigentlich gar nicht als nostalgischen Menschen bezeichnen würde (nein danke, ich möchte wirklich nicht in der Vergangenheit leben, ich mag meinen Computer und Menschenrechte, nur so als Beispiele).
Von diesem Standpunkt aus betrachtet muss es also etwas anderes sein, das mich zu alten Dingen oder Retro-Stilen hinzieht, und vielleicht gibt es ja auch eine Erklärung dafür, warum dieser eine meine Mutter geradezu abschreckt. Doch welche?
Ich habe mich also etwas eingelesen und eines war schnell klar:
Ein genreübergreifender Konsens zieht sich wie ein roter Faden sowohl durch Couture als auch durch Schmuckdesign, Frisuren, Architektur und Innendesign: Ich bin nicht die einzige, die auf Omas Teppich steht – Vintage und Retro sind total im Trend (na gut, das hatte ich auch schon bemerkt).
Aber es kommt noch mehr: Tatsächlich sind sowohl die Fragen nach dem Warum als auch die nach dem Ab wann nicht nur diskutiert, sondern vielseitig wissenschaftlich studiert worden. Die Antworten sind faszinierend und ich gebe zu, sie haben mich oft über mich und meine Mutter schmunzeln lassen.
Falls Sie diesen Artikel lesen, sind Sie vielleicht selbst ein großer Retro-Fan oder Vintage-Shopping auf Flohmärkten und bei eBay ist eine Ihrer liebsten Wochenendaktivitäten. In diesem Fall werden Ihnen die nächsten Seiten ermöglichen, auch Ihre eigene Zuneigung unter die Lupe zu nehmen.
Hier also eine Übersicht über das, was ich aus Online-Magazinen, Studien und Wikipedia gelernt habe. Beginnen wir mit den Definitionen, damit wir auch wirklich wissen, wovon wir reden:
Also, was denn nun – retro oder vintage?
Um besser zu verstehen, wie wir sowohl alte Dinge als auch neue in den Stilen vergangener Epochen in unseren Alltag einweben, brauchen wir zunächst eine klare Definition.
Vintage vs. Retro, oft durcheinandergebracht, vermengt oder verwechselt, sind zwei Begriffe, die theoretisch unterschiedliche Phänomene beschreiben.
Als vintage
(Englisch: „altmodisch", „alt", „klassisch", „aus einer bestimmten Zeit"—Wikipedia),

beschreiben wir einen Gegenstand, der zwar aus der Vergangenheit stammt, aber nicht als veraltet gilt; vielmehr wird er als historisch und wertvoll angesehen. Eine alte Taschenuhr zum Beispiel ist vintage, während eine alte Plastik-Armbanduhr meist einfach nur als schrottig gilt. Die genaue Definition ist jedoch nicht eindeutig; jeder hat seine eigene persönliche Vorstellung davon, was als vintage zählt und was lediglich Schrott bleibt. Unsere gegenteiligen Reaktionen auf Omas Teppich machen das deutlich (dazu gleich mehr). Doch zuerst noch eine wichtige Frage:
Was ist denn dann retro?
(Lateinisch retro „rückwärts", retrograd „rückwärts gewandt"—Wikipedia)

Retro beschreibt theoretisch etwas, das einen Stil der Vergangenheit wieder aufleben lässt, ohne ihn zu kopieren. Etwa wenn die eben erwähnte Plastikuhr Farben und Form einer beliebten Swatch-Uhr der 90er nachahmt, ihre Technologie aber dem heutigen Standard entspricht, etwa als Smartwatch, was sie versus unserer vintage Taschenuhr, plötzlich wieder interessant machen würde.
In der Praxis muss man meiner Meinung nach jedoch etwas hinzufügen: Niemand würde ein Möbelstück, das dem viktorianischen Stil nachempfunden wurde und moderne Elemente enthält, als retro bezeichnen. Es besteht eine starke allgemeine Konnotation des Wortes retro mit Stilrichtungen des letzten Jahrhunderts.
Alles in allem würde das Omas Teppich zu Vintage machen... Aber ich möchte seinen Stil trotzdem gerne als retro beschreiben – auch wenn das nach meinen eigenen Definitionen nicht korrekt wäre.
Die Grenzen zwischen den Begriffen sind anscheinend nicht undurchlässig. Statt retro könnte man ja auch im Vintage-Stil sagen, also in einem alten Stil. Das würde beispielsweise besser auf das oben genannte, viktorianisch anmutende Möbelstück passen.
Ich habe den Eindruck, dass ein Gegenstand der aus einer Epoche stammt, die wir stark mit dem Term retro assoziieren (Omas Teppich oder etwa eine Schallplatte aus den 70ern) häufig auch so bezeichnet wird.
Am Ende des Tages denke ich, dass die meisten von uns ein ungefähres Gefühl dafür haben, welcher Begriff wann angebrachter ist. Schließlich prägt unser alltäglicher Sprachgebrauch diese Bezeichnungen weit stärker als jede theoretische Definition.
Soviel zu Begriffen und sprachlichen Spitzfindigkeiten – Doch was ist denn mit dem Feeling? Schließlich lautete die erste Frage:
warum liebe ich eigentlich vintage?
Viele renommierte Magazine haben sich auch kürzlich schon mit dem Thema beschäftigt, wie ich entdeckte: Zum Beispiel veröffentlichte die „British Vogue“ Dezember 2024 einen Artikel mit dem Titel „The Biggest Vintage Trends Of 2025, According To The Experts“, geschrieben von Emily Chan, der keinen Zweifel daran lässt, dass in Kleidungsfragen alt in ist.
Im Februar 2025 schrieben sowohl das französische Magazin «Le journal de la maison» als auch das britische «Homes and Gardens» Artikel über Interior Design im Vintage-Trend, die ich nur empfehlen kann (Links in der Quellenangabe).
Ich habe viele, viele, viele Veröffentlichungen gelesen. Am Ende des Artikels finden Sie Links zu meinen Favoriten sowie einige persönliche Shopping-Empfehlungen (kein Influencing, nur ein paar schöne Stöberseiten für Vintage- und Retro-Möbel und Deko, die ich während meiner Recherche entdeckt habe und gerne mit Ihnen teile).
Laut Journalisten und Forschern ist die Frage nach dem Warum vor allem auf semiotischer Ebene zu beantworten: Denn ist ein vintage-Fächer oder ein retro-Koffer nicht auch ein Symbol – zusätzlich zu seiner Ästhetik?
Ja, anscheinend ist er vor allem das: ein Symbol.
Aber wofür stehen retro und vintage – grob verallgemeinert?
In allen Artikeln, Veröffentlichungen und Einträgen, die ich zu diesem Thema finden konnte, waren sich die Autoren einig, welche Aspekte mit dem Rückgriff auf vergangene Modelle verbunden werden:
- 1. Qualitätsartikel — die vor der Massenproduktion entstanden sind, vielleicht sogar Handgearbeitetes
- 2. Identität — etwas, das nicht aus einer Fabrik im fernen Osten stammt, sondern eindeutig einer bestimmten – oder zumindest im weiteren Sinne einer (in diesem Fall westlichen) – Kultur zuzuordnen ist.
- 3. Ökologische Werte — Second-Hand statt Überproduktion und Umweltverschmutzung – und damit auch weniger Ausbeutung von Arbeitern in den Produktionsländern.
Und all das spiegelt sich letztlich auch in den Gefühlen wider, die solche Dinge in uns auslösen: Sicherheit, Wärme, ja sogar Zugehörigkeit. Sie vermitteln uns einen Eindruck von Besonderheit und Individualität. Wir spüren, dass sie eine Geschichte haben – und vielleicht lassen sie uns sogar selbst ein wenig an der Geschichte teilhabens…
Also doch Nostalgie, am Ende des Tages…
Mein geliebter Teppich war also nicht nur retro-cool und eine sentimentale Erinnerung an meine Oma, sondern auch ein Gegenstand, der für mich einen gewissen nachhaltigen Lebensstil verkörperte: etwas, das Bestand hat, etwas, das man nicht auf Amazon bestellen kann, etwas, das nicht in Taiwan produziert wurde, etwas, mit dem ich mich rundum kuschelig und selbstzufrieden in meiner Hipster-Identität suhlen kann.
Da andere das Warum bereits ausführlich genug behandelt haben, fasse ich mich hier kurz und widme mich direkt der nächsten Frage: Wann?
Wann ist ein Stil nicht mehr überholt, sondern retro — ein Kleidungsstück nicht mehr abgetragen, sondern vintage?
Beim Grübeln und Recherchieren über diese Frage fiel mir ein für mich besonders frappierendes Beispiel ein, eines das meine Mit-Millennials wahrscheinlich gut nachvollziehen können: die Wiederauferstehung der seit einiger Zeit wieder höchst fashionable gewordenen 80er-Jahre.
Meine Kindheit und Jugend Ende der 90er und Anfang der 2000er Jahre war stark von einer intensiven Ablehnung jeglicher stilistischer Affiliation zu den 80er Jahren geprägt.
Nichts Scheußlicheres als Epauletten, nichts Peinlicheres als ein Vokuhila, nichts so von gestern wie Disco.
Und dann, langsam aber sicher, hallte das verstummte Echo David Bowies und Madonnas zurück in unser Leben, von Schnurrbärten über bunte Trainingsanzüge, immer lauter werdend. Als Pierpaolo Piccioli 2018 seine Prêt-à-Porter-Kollektion für Valentino präsentierte, transportierte er eine nostalgische Welt zurück in die Zukunft und von 80er-Cringe war keine Spur.
Ein dokumentiertes Phänomen:
Tatsächlich konnte ich bei meiner Recherche feststellen, dass es viele Theorien und Untersuchungen zu dem Thema gibt. Hier meine persönliche, simple Zusammenfassung:
Menschen brauchen ca. 20 bis 30 Jahre, um erwachsen zu werden und gegen die vorgehende Generation aufzubegehren. Was dann noch von den 20–30 Jahre zurückliegenden Moden übrig ist, wird mit nostalgischem Hurra auf das Podest der klassischen Stilrichtungen erhoben.
Hier eine kurze Übersicht von Ideen, die mich zu dieser Schlussfolgerung inspiriert haben:
1. Nostalgische Wertschätzung entsteht erst, wenn genügend zeitlicher Abstand die Erinnerung verklärt.
Zum Beispiel beschreibt Fred Davis:
"The past must be far enough away to allow… sentiment to overlay the harsher actualities."
(Fred Davis, Yearning for Yesterday, 1979)2. Nostalgie funktioniert selektiv: Sie löscht das Unschöne und bewahrt das Ikonische einer Epoche.
Svetlana Boym beschreibt:
"Nostalgia is selective memory… [It] excludes the pain and focuses on… perfection."
(Svetlana Boym, The Future of Nostalgia, 2001)3. Zeitlicher Abstand ermöglicht eine ironische Aneignung früherer Stile und diese Ironie macht ehemals Peinliches wieder tragbar.
Susan Sontag schreibt:
"Camp sees everything in quotation marks."
(Susan Sontag, Notes on ‘Camp’, 1964)4. Ein Stil wird erst dann „schön“, wenn eine neue Generation ihn neu bewertet und ästhetisch umformt.
Karl Mannheim erklärt:
"New generations reinterpret the cultural heritage… in accordance with their own formative experiences.", 1928)5. Die Kulturindustrie verstärkt diesen Zyklus wirtschaftlich: Ein Stil wird dann relevant, wenn die Generation, die ihn in der Kindheit erlebt hat, erwachsen und finanzstark genug ist, um ihn zurückzukaufen.
The Guardian schreibt:
"Nineties kids, now adults with disposable income, are driving the comeback of the brands and tastes they grew up with."
(The Guardian, Nostalgia Marketing Report, 2025)6. Mode folgt einem Oppositionszyklus: Man lehnt die Ästhetik der Eltern ab, um die eigene Identität sichtbar zu machen.
Dick Hebdige schreibt:
“Youth subcultures express their opposition to the dominant culture through style.”
(Dick Hebdige, Subculture: The Meaning of Style, 1979)
Fazit: Ein Stil wird also nicht zufällig vom „Altmodischen“ zum „Vintage“. Erst der zeitliche Abstand macht nostalgische Verklärung möglich, es gibt sozusagen einen gewissen Reifegrad. Der Generationswechsel, der alte Formen neu interpretiert, und das kulturelle Filtern des Erinnerungswertes machen vergangene Ästhetiken erneut attraktiv. In Kombination mit einer ironischen Re-Aneignung und den ökonomischen Möglichkeiten einer unabhängig werdenden Altersgruppe entsteht der typische 20- bis 30-Jahres-Zyklus, in dem ehemals Abgelehntes plötzlich als begehrenswert und stilprägend zurückkehrt.
Ein Punkt ist mir hier besonders aufgefallen: Was Dick Hebdige über das Ablehnen der Ästhetik der Eltern schreibt, findet in einer wesentlich jüngeren Studie handfeste Bestätigung und erklärt uns das Wie.
Rebellion wirkt offenbar als treibende Kraft in Modezyklen, was uns unmittelbar zurückführt zu Omas Teppich und der gerümpften Nase meiner Mutter. Vielleicht (wahrscheinlich) war hier sogar eine zweite Rebellion am Werk – die Schwiegertochter–Mutter-Dynamik. Und dennoch: Das allein erklärt es nicht.
Jedenfalls nicht, wenn man dem „Journal of the Royal Society“ Glauben schenkt, und ich schätze, das kann man durchaus tun. 2019 wurde dort eine bemerkenswerte Studie veröffentlicht unter dem leichtfüßigen Titel: „Fashion and art cycles are driven by counter-dominance signals of elite competition: quantitative evidence from music styles“.
Wie die Studie am Beispiel von Musik zeigt, wird ein Stilwandel weder von der herrschenden Elite noch von der breiten Masse ausgelöst, sondern von einer revoltierenden Außenseitergruppe, die sich mit einem neuen Stil gegen die dominierende Kultur stellt.
Als punkrockliebende, von Emma Goldman inspirierte Ökorevoluzzerin wundert mich das natürlich nicht im Geringsten.
Meine Mutter fand also nicht nur den Teppich scheußlich – sie betreibt im Grunde ästhetische Landschaftspflege: Altes rausreißen, damit Neues sprießen kann.
Ich wiederum greife ins Archiv des Vergangenen, um ihm Moderne einzuhauchen und daraus neue Stilrichtungen zu schmieden – unser kulturelles Hamsterrad dreht sich schließlich weiter. (Und träume währenddessen ganz bescheiden davon, den nächsten Jugendstil zu erfinden.)
Zum Abschluss steht also nur noch eine offene Frage:
Ist die Liebe zum Alten neu? Wann begann der Kreislauf?
Um die heutige Retro-Bewegung historisch einzuordnen, lohnt ein Blick in die Vergangenheit – und zwar weit vor die 1960er unseres Teppichs.
Zum Stil "à la manière de" – eine Retrospektive der Kunstgeschichte

(Neurokoko-Interieur, New York, 1855 (Rekonstruktion), Metropolitan Museum of Art - Photograph by Andrew Balet)
Schon im 19. Jahrhundert sammelte man begeistert alte Stoffe, Quilts und kunstvolle Stickereien – also genau das, was wir heute wohl als vintage Textilien etikettieren würden. Damals war das allerdings eher ein Hobby von Sammlern und Einrichtungsliebhabern als etwas, das im Alltag der breiten Bevölkerung vorkam.
Damals nannte man diese Rückgriffe auf vergangene Stile nicht Retrotrend, sondern Historismus – ein Mode- und Architekturphänomen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, bei dem Künstler munter in früheren Jahrhunderten wilderten (kommt uns bekannt vor?).
Neugotik, Neorenaissance, Neorokoko, Neoklassizismus – in Architektur und Innenraumgestaltung wucherten die historistischen Varianten nur so.
Der historische Umschwung kam Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Jugendstil / Art Nouveau (einem meiner erklärten Favoriten – gleich neben Art Deco). Inspiriert von mittelalterlichen und naturalistischen Formen, spektakulär neuinterpretiert statt kopiert, wurde etwas völlig Neues gestaltet.
Der Blick zurück und das Wiederaufgreifen früherer Stilformen sind also keine Erfindung des 20. Jahrhunderts.
Unsere moderne Interpretation scheint jedoch ungefähr in den 1970ern ihren Ursprung zu finden.
Irina Ugrekhelidze beschreibt in einem Artikel der «Interdisciplinary Cultural and Human Review» vom November 2024 («Vintage revival: Exploring nostalgia and retro aesthetics in contemporary fashion»), wie der Historizismus in der Mode ein Revival erlebte – und damit die Retromode ihren Ursprung fand:
Sie macht deutlich, dass der Historizismus als Modetrend im 20. Jahrhundert wieder Fahrt aufnahm – und dass Yves Saint Laurent ihm in den 70ern mit 40er-Anspielungen frisches Renommee einhauchte (obwohl solche Hommagen auch vorher bereits existierten).
Retro-Mode ist also eine Art moderner Historizismus, auch wenn streng genommen Historismus eine genaue Epochenrekonstruktion beschreibt und Retro eher eine ästhetische Wiederbelebung darstellt.
Welch eine Ironie, dass der Retro-Trend sozusagen selbst ein Retro-Trend ist.
Jetzt, wo alle Fragen beantwortet sind, zurück zu Omas Teppich: Auch wenn die 20–30-Jahre-Zyklen unseren Stil theoretisch prägen, blieb meine Mutter in diesem Fall unverrückbar retro-resistent. Die bräunliche Ästhetik der 60er konnte selbst nach fünf Jahrzehnten ihr Herz nicht gewinnen.
Ob Teppich, Kleid oder Kerzenständer – jedes Objekt wird in unserem Alltag zum Knotenpunkt zwischen persönlicher Biografie, rebellischer Identitätsbildung und den unsteten Rhythmen der Stilgeschichte. Und ich muss sagen: Das beruhigt mich auf eine merkwürdig tröstliche Weise. Denn wir sind nicht bloß das Produkt von Zyklen, Systemen und Endlosschleifen – unser Geschmack entsteht auch aus Individualität und Rebellion. Und das ist sogar wissenschaftlich bewiesen.
Wir können uns also entspannt zurücklehnen – im knarzenden Ledersessel oder ikonischen Korbstuhl – und unsere Einzigartigkeit auskosten. Es ist doch schön, zu wissen, dass wir zwar in größere kulturelle Systeme eingebettet sind, unser Geschmack jedoch stets etwas Eigenwilliges bleibt.
Ob Omas Teppich gefällt oder nicht, bleibt am Ende doch eine Frage des ganz persönlichen Geschmacks.
Sources:
Favorites & Shopping:
• La Cafarfe; Mode rétro 2025 : quand les réseaux sociaux réinventent le style
• MISTER WILS; Le retour du rétro : le style vintage pour 2025
• BCONNECTED Blogartikel: Zwei ikonische Stühle mit einem modernen Twist
Other sources:
• Fred Davis, Yearning for Yesterday: A Sociology of Nostalgia (Free Press, 1979).
• Svetlana Boym, Nostalgia and Its Discontents, The Hedgehog Review, Summer 2007
• Susan Sontag — Notes on Camp (1964)
• Karl Mannheim, „The Problem of Generations" (1928/1952)
• Dick Hebdige, Subculture: The Meaning of Style, 1979
• The british Vogue; Article: The Biggest Vintage Trends Of 2025, According To The Experts
• The Guardian; "Vintage, retro, antique: what's the difference?"
• Marie claire: Our Experts Predicted the Top Fashion Trends of 2025—Now, They're All Coming True
• ELLE: The Newest Thing in Fashion Is Very (Very) Old